Drama am RheinWo man die Schwächen des Kölner Bahnnetzes so richtig erleben kann? Daniel Lückerath schlägt eine Fahrt mit der Linie 16 vor, vom Neumarkt zum Barbarossaplatz. Wäre Köln ein Organismus, die kurze Strecke wäre so etwas wie eine Schlagader – eine krankhaft verstopfte Schlagader. Am Neumarkt kreuzen sich sieben Bahnlinien, dazu Busse, alles auf einem Platz und unterirdisch darunter – und drum herum kreisen Autos auf drei Spuren. Rolltreppe runter, Gedränge beim Einstieg, nach wenigen Hundert Metern Fahrt taucht die Bahn aus dem Erdboden auf, Gedränge beim Ausstieg, Ankunft am Barbarossaplatz, den Lückerath ironisch das "Schmuckstück" des Kölner Netzes nennt. Auf einer Doppelkreuzung streiten sich Autos und Lastwagen und Fahrräder mit vier Straßenbahnlinien um die Vorfahrt.
Lückerath ist Stammkunde bei den Kölner Verkehrs-Betrieben (KVB), er ist in Köln geboren und hat dort gerade in Informatik promoviert – darüber, wie man Fahrpläne so optimieren kann, dass kleine Zwischenfälle keine großen Verzögerungen auslösen. Dafür ist seine Heimatstadt besonders anfällig: "Es reicht, dass ein Auto zu nah an den Gleisen steht oder jemand zu lange die Tür einer Bahn aufhält", sagt Lückerath, "und schon gerät alles aus dem Takt."
Kölns Bus- und Bahnnetz gehört zu den schlechtesten der Republik. In Köln kommen auf einen Einwohner so wenig Haltestellen-Abfahrten wie in sonst kaum einer deutschen Großstadt. Kölner überrascht das kaum, sie erleben das Drama ja jeden Tag. Und auch Ortsfremde wundert es nicht: Köln – das ist doch jene Stadt, wo der Neubau einer U-Bahn erst einen Kirchturm in Schieflage und dann das Stadtarchiv zum Einsturz brachte.
Diese neue U-Bahn sollte eigentlich schon seit 2011 die Innenstadt und auch das Nadelöhr zwischen Barbarossaplatz und Neumarkt entlasten. Doch bisher endet sie in der Nähe des Rathauses, nur ein paar Schritte von den verantwortlichen Kommunalpolitikern entfernt. "Köln hat lange nicht groß genug gedacht und nicht mutig genug geplant", sagt die SPD-Politikerin Susana dos Santos Herrmann aus dem Verkehrsausschuss. In den 1960ern habe man sich dem Autowahn gebeugt, und statt ein geschlossenes und weniger anfälliges U-Bahn-System zu bauen, habe man U-Bahn und Straßenbahn verquickt. Es gebe Engstellen, etwa die Rheinbrücken oder den Neumarkt, durch die die Bahnen gar nicht häufiger fahren könnten – selbst wenn man das wollte.
Andreas Wolter, der Vorsitzende des Verkehrsausschusses, versucht gar nicht erst, die Situation zu beschönigen. Selbst außerhalb der Rushhour müsse man sich in die Bahnen quetschen, sagt der Grünen-Politiker, das System sei "total ausgelastet", es zu verbessern "städtebaulich hochkompliziert", die Entscheidungsstrukturen seien "schwerfällig". Es fehle überall an Geld – etwa, um die wichtigste West-Ost-Verbindung bis in ein neu erschlossenes Wohngebiet zu verlängern. Die Fördermittel für den Nahverkehr seien preisbereinigt "massiv zurückgegangen", beklagt Wolter, es gebe ein starkes Ungleichgewicht, das Städte im Westen Deutschlands benachteilige. Das alles sei "ernüchternd".
Dort, wo der Mangel verwaltet wird, ist von Ernüchterung wenig zu spüren: bei den KVB. Gerade hat es eine nicht ungewöhnliche Störung gegeben: "Fahrunfähiger Zug am Barbarossaplatz", sagt der Einsatzleiter, "aufgrund dessen waren die Linien 12, 15 und 16 an der Weiterfahrt gehindert." Zum Glück können Techniker das Problem beheben, bevor der Dominoeffekt einsetzt, Bahnen umgeleitet werden und Ersatzbusse losfahren müssen. Alles zu beobachten auf einer Multimediawand: Die 18 Millionen Euro teure Leitstelle ist der ganze Stolz von Jürgen Fenske, KVB-Chef und außerdem Präsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen.
Fenske müsste eigentlich frustriert sein. Ja, am Neumarkt könnte man jeden Tag denken, es sei gerade Katholikentag in Köln, sagt er. Und ja, bis 2030 müsse man in Köln zwei Milliarden Euro in den Ausbau und die Erneuerung des Netzes stecken. Und klar, man müsse jeden Euro "drei-, vier-, fünfmal umdrehen", bevor man ihn ausgebe, weswegen man in den vergangenen Jahren 1.200 von 4.500 Stellen eingespart habe.
Doch trotz allem sagt Fenske: "Wir haben ein klasse Produkt und viele Kunden, auf manchen Linien sogar zu viele Kunden, die Nachfrage ist also da." Konfrontiert man ihn mit dem schlechten Ergebnis des Kölner Nahverkehrs im ZEIT-Vergleich, dann zieht er seine eigene Tabelle hervor. Sie zeigt, dass die KVB Berufstätigen, Auszubildenden, Schülern und Studenten für eine Abo-Monatskarte weniger abverlangen als Hamburg, Berlin und München. Und der Preis fürs Einzelticket sei auch nicht höher als in den drei anderen Millionenstädten, man habe ihn seit zwei Jahren "nicht angefasst". Zudem seien Busse und Bahnen heute sauberer als früher, und wer via Facebook Probleme melde, dem werde sofort geholfen. Manchmal gehe er, Fenske, sogar selbst auf "KVB-Streife", um sich ein Bild zu machen.
Fenske mag in seinem Optimismus etwas ignorant klingen. Aber er denkt groß: Die Stadt habe einen Plan entwickelt, erzählt er und zieht eine bunte Broschüre hervor mit dem Titel "Köln mobil 2025". In etwa zehn Jahren solle jeder dritte Kölner den Nahverkehr nutzen, aktuell sei es etwa jeder fünfte. Das ist zumindest – mutig.
Quelle:
http://www.zeit.de/2017/07/koen-nahverkehr-bahnnetz-rankings-verlierer