Das Urgestein der MVB“Was Polte nicht wollte, was die Post nicht nahm, ging dann zu der Straßenbahn” – Wie eine einfache Frau am Steuer der Linie 2 nie die Kontrolle verliert.Es ist ein nasskalter Dezembersamstag. Die Stimmung ist, obwohl Weihnachten vor der Tür steht – oder vielleicht genau deswegen -, trüb an der Straßenbahnhaltestelle Leiterstraße. Nur Sybille Herrmann trägt ein Lächeln im Gesicht und einen warmen Kaffee in der Hand. Seit 45 Jahren ist die gebürtige Magdeburgerin im Dienste der MVB tätig – aus Leidenschaft, versteht sich. Doch das war nicht immer der Fall.
“Du machst das ‘n paar Jahre und dann suchste dir was anderes” – war ihr Mantra zu Beginn ihrer Ausbildung. Denn eigentlich wollte sie Sportlehrerin werden, nachdem die Schulzeit abgeschlossen war.
“Naja, dann habe ich mich doch als Straßenbahnfahrerin beworben. Meine Mutter war schockiert, aber naja, jetzt stehe ich hier.”
Wir sind direkt beim “Du” – und auch wenn ich mich dabei häufig zu Beginn unseres Gespräches vertue, weist mich die 62-Jährige direkt und bestimmt auf unsere Abmachung hin. Es vergehen nur wenige Minuten, bis die Linie 2 in Richtung Alte Neustadt an unsere Haltestelle vorfährt. Schichtbeginn für Sybille Herrmann.
“Das Wichtigste ist die Sitzposition.” – Beine verschränkt und mit einer stoischen Ruhe bedient sie die Schaltung des Wagens. So leicht, als wäre es ein Spiel.
Wir fahren zur Station Alter Markt über die Kreuzung. Autos, Fahrräder, ein überfüllter Weihnachtsmarkt. Ich bin eindeutig der nervösere von uns beiden, bei diesem Anblick in den Seitenspiegeln. Doch schon nach wenigen Minuten legt sich dieses Gefühl. “Ich habe einen Blick für alles, wie so ‘ne Rundumleuchte.”
Es ist die Kombination aus Magdeburger Mundart und Tiefenentspanntheit, die Sybille Herrmann unnachahmlich ausstrahlt. Selbst der LKW-Fahrer, welcher versucht, sein Gefährt viel zu nah neben die Gleise zu parken, begegnet sie mit einem Lächeln und einem erhobenen Zeigefinger – fast so, als würden sich die beiden seit Jahren kennen. Wir landen schnell bei gesellschaftlichen Themen – die DDR, Corona und die Frage nach dem “Danach”.
“Ich muss zugeben, mir ging es immer gut. Egal ob zu DDR-Zeiten oder heute. Aber natürlich will ich auf gar keinen Fall diesen Staat zurück.”In manchen Wochen fuhr sie zwei Dienste täglich, und obwohl die Bezahlung für damalige Verhältnisse ordentlich war, sei es im Gegensatz zu heute nicht zu vergleichen. So bekomme ich erzählt, wie sie an einem ihrer wenigen dienstfreien Tage zuhause vor dem Fernseher saß, als Günter Schabowski die geschichtsträchtigen Worte sprach: “Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich” und der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West endgültig fiel.
“Ich dachte mir: Aha ok, gut… Erst paar Wochen später sind wir mit meinem Mann und meiner Schwiegermutter über die Grenze nach Helmstedt gefahren. Sie stieg erstaunt aus dem Zug und sagte: ‘Hier riecht es ganz anders.’”
In Sybilles Gesicht kommt ein ansteckendes Lachen auf – es ist unnütz, sich dem zu verwehren.
Wir stehen an der Gleisschleife an der Endhaltestelle Alte Neustadt. “Wir haben zehn Minuten, bis wir weiter müssen.”
Natürlich kommen wir an einem Gespräch über Corona nicht vorbei. Doch eine Pandemie bringt die Straßenbahnfahrerin nicht aus der Ruhe. Es sei für sie eine Selbstverständlichkeit, geimpft zu sein, sogar schon geboostert. Ihr fehle das Verständnis gegenüber jenen Menschen, die sich nicht impfen lassen.
“Jeder kann frei entscheiden, aber ich kapiere es einfach nicht. Wer Verstand hat, lässt sich Impfen.”
Häufig kommt es zu kleinen Auseinandersetzungen mit Passagieren, die das Konzept einer Maske nicht ganz umgesetzt bekommen. Sybilles Herangehensweise ist aber dabei immer die gleiche.
“Ich versuche das immer humorvoll zu lösen. Neulich hatte eine Dame ihre Maske am Kinn und ich hab ihr jesagt: ‘Wenn se ihre Maske suchen, die haben se am Kinn.’ Sie hat gelacht und alles war gut.”
Doch es gab in ihrer langen Historie auch andere, sagen wir komplizierte Probleme. So versuchte ein Mann vollends im Rausch sich in der Bahn zu entkleiden und zu entleeren.
„Ich hab’ die Tür aufgerissen und geschrien: ‘Sportsfreund, zieh deine Hose hoch und raus.’ So schnell hab’ ich noch nie jemanden sich anziehen gesehen.”Unsere Türen schließen sich, das unverkennbare Piepen leitet die Rückfahrt ein. Neben der Tiefenentspanntheit, lässig im Sitz zurückgelehnt, merke ich nach und nach bei unserer Fahrt, dass Sybille eine gnadenlose Realistin ist.
“Zwei Jahre noch, dann is’ aber auch jut. Dann ziehe ich vielleicht nach Hamburg zu meiner Tochter, mal sehen.”
Und auch auf meine Frage, was sie sich denn für die Menschheit in der Zukunft wünscht, vor allem auch auf den Hinblick einer gespaltenen Gesellschaft durch Corona, sind ihre Lösungsvorschläge einfach, aber verständlich.
“Die ganzen Kriege sollten aufhören, Afghanistan, Syrien, Ukraine. Einer soll dem anderen zuhören und jut. Das, was die Jugend von heute macht, find’ ich och klasse, für das Klima auf die Straße gehen zum Beispiel, das gibt mir Hoffnung, dass es besser wird.”
Es bleiben uns nur noch wenige Minuten, bis unsere Zeit sich dem Ende neigt. Vorbei an der gleichen trüben Menschenmasse, die ihre Wochenendeinkäufe erledigt. Vorbei an grauen Häuserfassaden und leeren Gesichtern am Hasselbachplatz. So bleibt nur das freundliche Lächeln von Sybille, als ich mich aus der Linie 2 in die kalten Straßen Magdeburgs werfe, und ihre Antwort auf meine Frage, was ihr größter Wunsch für die Zukunft sei:
“Jesund bleiben. Das ist alles.”Unverkennbar. Das hoffe ich auch.
Quelle:
https://strasse39.md/das-urgestein-der-mvb/